2010: Stellungnahme zum Gutachten zu den wirtschaftlichen und technologischen Perspektiven der Baden-Württembergischen Landespolitik bis 2020

Der Landesfrauenrat, vertreten durch Angelika Klingel, wirkte im Innovationsrat der Landesregierung Baden-Württemberg mit. Zu dem, vom Innvationsrat bei der McKinsey & Company und dem Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V. im Auftrag gegebenem Gutachten zu den wirtschaftlichen und technologischen Perspektiven der Baden-Württembergischen Landespolitik bis 2020 nahm der LFR mit Schreiben vom 16. Dezember 2010 an den Ministerpräsidenten und die Vorsitzenden des Innovationsrates Stellung, Auszug:

„… der Vorstand des Landesfrauenrats Baden-Württemberg hat sich mit den wirtschaftlichen und technologischen Perspektiven der Baden-Württembergischen Landespolitik bis 2020, insbesondere mit dem von Ihnen in Auftrag gegebenem Gutachten der McKinsey & Company und des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V. (Juli 2010) befasst.
Vor dem Hintergrund der von der Delegiertenversammlung des Landesfrauenrats am 8. Mai 2010 in Stuttgart beschlossenen Resolution „Perspektiven von Frauen in der Wirtschaftskrise“ übermitteln wir Ihnen und den Mitgliedern des Innovationsrates einige Anmerkungen und Empfehlungen der Frauenverbände des Landes.
„Ohne Gleichstellung rücken Ziele wie nachhaltiges Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt in weite Ferne. (…) Gleichstellungsmaßnahmen sollten deshalb nicht als kurzfristiger Kostenfaktor, sondern als langfristige Investition betrachtet werden.“,
stellt die EU-Kommission in ihrem diesjährigen Bericht zur Gleichstellung von Frauen und Männer 2010 fest, eine Einschätzung, der sich die Frauenverbände des Landes voll und ganz anschließen.

Aus dem Gutachten „Technologien, Tüftler und Talente“ lässt sich Zustimmung zu dieser Einschätzung im Ansatz lesen, wenn auf die Strategie zur Sicherung einer ausreichenden Zahl von Fachkräften durch die Erhöhung des Arbeitsvolumens der Frauen auf dem Arbeitsmarkt verweisen wird.
Dass dafür die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienverantwortung in Baden-Württemberg dringend verbessert werden müssen, darauf weist auch der Landesfrauenrat seit Jahren hin.
Um Hindernisse für eine Erhöhung der Erwerbsquote bzw. des Arbeitsvolumens der Frauen abzubauen ist eine Forcierung der Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unerlässlich, insbesondere: der Ausbau der frühkindlichen Betreuung und Bildung und der Betreuungsdienste für hilfebedürftige Ältere, aber auch flexible, den Anforderungen an eine Vereinbarkeit angemessene Arbeitszeiten, sowie die Förderung einer ausgewogenen Aufteilung privater und familiärer Pflichten zwischen Frauen und Männern, die Förderung qualifizierter Teilzeitarbeitsplätze für Frauen und Männer, und schließlich ein Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere im ländlichen Raum. Vor allem zukunftsorientierte Technologie-Branchen sollten durch eine Förderung qualifizierter Teilzeitarbeitsplätze für Frauen und Männer, auch in Führungspositionen, Maßstäbe setzen für eine Unternehmenskultur, die ihnen mittel- und langfristig ihre qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Familienverantwortung erhält.

Bildung, Qualifikationsaufbau, –Erhalt und -Anpassung sind Schlüssel einer zukunftsfähigen Wirtschaft in unserem Land.

Im Interesse der Herstellung gleicher Bildungschancen für alle Kinder und einer allgemeinen und nachhaltigen Erhöhung des Bildungsniveaus weist auch der Landesfrauenrat darauf hin, dass bei der Schaffung von ausreichend vielen Ganztagesbetreuungsplätzen in Krippen und Kinder-betreuungseinrichtungen der Bildungsqualität in den Einrichtungen ein herausragender Stellenwert zukommt. Der Landesfrauenrat Baden-Württemberg hat deshalb bei seinen Forderungen und Vorschlägen zum Ausbau der frühkindlichen Betreuungsangebote bzw. der Ganztagsschulen immer Bildungsmindeststandards gefordert und sich zu allen nicht verlässlichen und nicht den Bildungsanspruch und –Auftrag gewährleistenden Betreuungsformen kritisch geäußert.
Beispielhaft verweisen wir auf unsere Schreiben von Anfang dieses Jahres aus Anlass der Infragestellung des Ausbaus der Krippenplätze. Wir sehen das Land Baden-Württemberg in der Pflicht, den Ausbau der Ganztagesschulen und der Ganztagsbetreuung von Kindern bis zum Schuleintritt forciert voranzutreiben und im Landeshaushalt entsprechende Prioritäten zu setzen.
Die Stichworte „Individualisierung des Unterrichts und der Bildungswege“, Durchlässigkeit der Bildungswege und Professionalisierung des pädagogischen Personals verweisen auf zentrale Aspekte, die in nachhaltigen Reformen des Bildungssystems umgesetzt werden müssen. Dazu gehört der flächendeckende Ausbau von Ganztagesschulen auf der Basis zeitgemäßer pädagogischer Konzepte (individuelle Förderung, rhythmisierter Unterricht etc.).

Die Baden-Württembergische Bildungspolitik lässt bislang jedoch allenfalls den Willen erkennen, kleinere Korrekturen am vorhandenen System vorzunehmen.

Die Politik muss darüber hinaus der besonderen Lage bestimmter Frauengruppen vor allem durch entsprechende Qualifizierungsangebote Rechnung tragen. Frauen, die bislang nur in prekären Arbeitsverhältnissen tätig sind, ältere Arbeitnehmerinnen, Alleinerziehende, Migrantinnen und Frauen, die einer ethnischen Minderheit angehören, können unter besseren Rahmenbedingungen und ggf. entsprechender Qualifizierung, wozu für Migrantinnen auch Ausbildungsprogramme mit begleitendem Deutschunterricht sinnvoll sind, Potenziale in die Wirt-schaftsentwicklung des Landes einbringen.
Der Landesfrauenrat erwartet, dass in einer Wirtschaftsstrategie für Baden-Württemberg spezielle Maßnahmen und Zielsetzungen für die Gleichstellung von Frauen und Männern benannt werden.
– Die Schaffung zusätzlicher Angebote und damit Arbeitsplätze im Bereich der sozialen Infrastruktur, insbesondere in eher ländlichen Räumen, z.B. bei der Kinderbetreuung und zunehmend zur Versorgung von Pflegebedürftigen wird unerlässlich sein, darauf weist auch das Gutachten hin. Ein Ausbau der sozialen Infrastruktur wird nicht nur Arbeitsplätze schaffen und die Vereinbarkeit verbessern, sondern gleichzeitig zur Lebensqualität beitragen und der Abwanderung aus ländlichen Räumen entgegen wirken.
– Zur Erschließung des Fachkräftepotenzials von Frauen in technologischen Wachstumsfeldern müssen einerseits die Anstrengungen im Bereich der Berufsorientierung von Mädchen auf technische und IT-Berufe bzw. MINT-Studiengänge fortgeführt werden. Zugleich sollten die Unternehmen jedoch auch bei der Entwicklung einer Unternehmenskultur unterstützt werden, die Frauen in diesen Berufszweigen – auch während der Zeit aktiver Elternschaft – darin unterstützt, ihre Qualifikation als Innovationspotenzial einzusetzen bzw. zu erhalten sowie auch Führungsverantwortung zu übernehmen.
Die Landesregierung sollte Existenzgründungsinitiativen von Frauen gezielt fördern. Die Gewährleistung von spezifischen Informations- und Beratungsangeboten gehört dazu.
Zielgerichtete Maßnahmen auf regionaler Ebene könnten durch regionale Sachverständige initiiert werden, wie sie der Landesfrauenrat seit längerem vorschlägt. Diese müssen dazu auf verlässliche geschlechtsspezifische regionale Planungsdaten zurückgreifen können.
Der Einsatz der zur Kofinanzierung bereitgestellten Mittel für beschäftigungspolitische Initiativen aus europäischen Mitteln für die Verbesserung der Situation für Frauen ist sicherzustellen.
Im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere in den ländlichen Räumen ist der Aspekt des Gender Mainstreaming maßgeblich. Darauf hat die Vorsitzende des Landesfrauenrats im Rahmen ihrer Mitwirkung im Innovationsrat wiederholt hingewiesen.

Zum Umsetzungsfahrplan
In einen zukunftstauglichen Umsetzungsfahrplan gehört, diesen nach Kriterien des Gender Mainstreaming zu überprüfen.
Wir empfehlen dem Land Baden-Württemberg, dieses Kriterium explizit zu benennen und geeignete Kontrollmechanismen zu installieren.
Des Weiteren müssen jedoch auch alle künftigen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen unter dem Aspekt des Gender Mainstreaming geplant bzw. in ihrer Umsetzung überprüft werden.
Ein konsequentes Gender Budgeting als verbindliche Vorgabe für die Haushaltsaufstellung des Landes ist gerade bei den aus dem Haushalt der Landes mit zu finanzierenden Maßnahmen geboten.
Entscheidungsträger müssen diese Gesichtspunkte verstärkt in den Blick nehmen. Daher ist eine Vielfalt in den Vorständen börsenorientierter Unternehmen und in den Gremien der Landesregierung unerlässlich, die gesetzliche Quote hat sich als Instrument bewährt. Wir fordern sie deshalb auch bei der Besetzung von Führungspositionen und Funktionsstellen in der Landesverwaltung bzw. bei Gremien, die vom Land mit besetzt werden.
Hier sehen wir einen Handlungsbedarf für die Nachbesserung landesgesetzlicher Grundlagen.

Regelungen auf Bundesebene und entsprechende Bundesratsinitiativen des Landes für
– ein bundesweites Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft;
– Gesetzlich festgelegte Mindestquoten für Frauen in Aufsichtsräte;
– und eine Abschaffung des Ehegattensplittings
würden mittelfristig und langfristig eine gleichmäßigere und kontinuierlichere Erwerbsbeteiligung beider Geschlechter befördern.

Gerne sind wir bereit, aktiv mit Vorschlägen an der Entwicklung eines zukunftstauglichen Programms zur Entwicklung des Wirtschaftslebens in unserem Land mitzuwirken, das auch die notwendigen gleichstellungspolitischen Ansätze integriert.“