ELSA-Studie zeigt deutliche Lücken im Versorgungsnetz sowie Handlungsbedarf
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Mit der ELSA-Studie („Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung“) wurde in Deutschland zum ersten Mal umfassend die Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbruch erforscht. Das Forschungsprojekt zu sozialen und gesundheitlichen Belastungen von Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft austragen oder abbrechen, erstreckte sich über dreieinhalb Jahre. Einbezogen wurden auch die psychosozialen und medizinischen Unterstützungs- und Versorgungsangebote.
In dem Verbundprojekt aus sechs Hochschulen unter Leitung von Prof. Dr. Daphne Hahn von der Hochschule Fulda wurden betroffene Frauen, Ärzt*innen sowie Fach- und Leitungskräfte aus Verbänden und Beratungsstellen befragt sowie amtliche Strukturdaten ausgewertet.
Die zentralen Ergebnisse wurden im April 2024 der Öffentlichkeit vorgestellt und der gesamte Abschlussbericht am 13.08.2025 durch das Bundesgesundheitsministerium veröffentlicht.
Baden-Württemberg gehört der Studie zufolge zu den drei Bundesländern mit geringem Versorgungsgrad, d.h. hier ist der Zugang zur medizinischen Versorgung bei Schwangerschaftsabbruch im Vergleich am schlechtesten. So sind laut ELSA-Studie in acht baden-württembergischen Landkreisen die Kriterien für eine ausreichende Erreichbarkeit einer Einrichtung, die Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, nicht erfüllt. Dies deckt sich mit den Erfahrungen in anerkannten Schwangerenberatungsstellen, wonach Frauen in vielen Regionen im Land sehr weite Wege zurücklegen müssen, insbesondere für einen operativen Eingriff.
Die im Rahmen der Studie befragten Frauen berichteten in den Regionen mit geringem Versorgungsgrad insgesamt von mehr Barrieren: Sie mussten häufiger weite Wege zurücklegen, hatten häufiger Schwierigkeiten, eine Einrichtung für einen Schwangerschaftsabbruch zu finden, ihnen entstanden erhebliche Kosten für die An- und Abreise und im Durchschnitt auch höhere Kosten für den Abbruch selbst.
Gradmesser Erreichbarkeit
Die ELSA-Studie legt als Kriterium für eine ausreichende Erreichbarkeit eine definierte Schwelle aus der Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für die ambulante gynäkologische Versorgung zu Grunde. Dabei handelt es sich um ein anerkanntes Instrument der vertragsärztlichen Versorgung in Deutschland, das auf Studien der Versorgungsforschung basiert. Es legt fest, dass 95 % der Bevölkerung eines Landkreises das nächste ambulante gynäkologische Angebot innerhalb von 40 Minuten Autofahrt erreichen müssen.
Immer wieder beziehen sich die Bundesländer auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993. In diesem heißt es, dass ausreichend Einrichtungen für einen Schwangerschaftsabbruch dann gegeben sind, wenn Frauen nicht mehr als einen Tag für die Hin- und Rückreise benötigen (BVerfGE 88, 203). Auch die baden-württembergische Landesregierung bezieht sich in einer kleinen Anfrage vom August 2022 auf dieses „Tagesreisekriterium“ (Drucksache 17 / 2996).
Dabei wird übersehen, dass dieses Urteil keine versorgungspraktische Normierung darstellt, sondern auf verfassungsrechtliche Erwägungen zielt. Das Verfassungsgericht verweist hinsichtlich der versorgungspraktischen Planung ausdrücklich auf die Länderverantwortung.
Die Länder sollten aus Sicht der Praxis mindestens die definierten und studienbasierten Schwellen des G-BA zugrunde legen. Zu bedenken ist, dass nicht alle ungewollt Schwangeren ein Auto zur Verfügung haben und Wege mit dem ÖPNV oftmals deutlich länger als 40 Minuten dauern. Hinzu kommen weitere Faktoren, die die Planbarkeit und damit Erreichbarkeit erschweren können: Dazu gehören u.a. terminliche Verpflichtungen, die sich aus Berufstätigkeit, der Pflege von Angehörigen oder der Betreuung von Kindern ergeben, häusliche Gewalt, eine Behinderung oder Sprachbarrieren.
Schwierige Datenlage
Die ELSA-Studie weist zudem auf eine unzureichende Datenlage hin, die eine kleinräumige Bewertung erschwert – eine Einschätzung, auf die Schwangerenberatungsstellen das Land immer wieder hingewiesen haben. Mit der Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes vom 7.11.2024 wurde die künftige jährliche Auswertung der Meldedaten nach Kreisen und kreisfreien Städten aufgenommen sowie die Möglichkeit der Veröffentlichung der Zahl der bestehenden Meldestellen auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte. Dies erhöht die Aussagekraft nur dann, wenn die Meldedaten tatsächlich je Landkreis/kreisfreie Stadt erhoben und nicht aufgrund geringer Meldezahlen je Landkreis/kreisfreier Stadt größere Einheiten gebildet werden. Die Kapazitäten sowie die angebotenen Methoden werden jedoch nach wie vor nicht durch die Meldedaten abgebildet, sind aber für die Beurteilung regionaler Versorgungslagen von hoher Bedeutung.
Barrieren für Ärzt*innen
Im Rahmen der ELSA-Studie wurden bundesweit Ärzt*innen befragt, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Dabei berichten fast zwei Drittel der Ärzt*innen, die Abbrüche vornehmen, von teils gravierenden Stigmatisierungserfahrungen im privaten oder beruflichen Umfeld. Ein Viertel der Ärzt*innen wurde bereits bedroht, angezeigt oder gar angegriffen, weil sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Zudem stellen bürokratische Hürden beim Zugang zu den erforderlichen Medikamenten (Mifepriston, Misoprostol), das gesonderte Abrechnungsverfahren mit der Kostenübernahme durch die Länder und eine nicht kostendeckende Vergütung weitere Barrieren dar. Die Ergebnisse zeigen zudem Lücken in der Qualifizierung: Ein relevanter Anteil an Ärzt*innen hat das Durchführen von Schwangerschaftsabbrüchen nicht in der fachärztlichen Weiterbildung erlernt – hier bestehen vor allem Lücken bei der medikamentösen Methode. Weiterhin zeigt sich ein hoher Fortbildungsbedarf bei den Ärzt*innen, insbesondere für das Stellen einer kriminologischen oder medizinischen Indikation.
In einer zweiten Befragung wurden Gynäkolog*innen, egal ob sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen oder nicht, in drei Regionen in Deutschland, darunter der Regierungsbezirk Tübingen, befragt. Die Ergebnisse zeigen zunächst, dass vielfältige Gründe bestehen, warum Gynäkolog*innen keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen: Am häufigsten wird, insbesondere von in Kliniken tätigen Ärzt*innen, genannt, dass die Einrichtung keine Abbrüche anbietet. Fehlende geeignete Räumlichkeiten für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen werden vor allem von Ärzt*innen in Einzelpraxen angegeben. Zudem wird auch ein zu hoher bürokratischer Aufwand als Grund genannt, keine Abbrüche durchzuführen. Aber auch „innere“ Barrieren in Form von dem Erleben der Durchführung als belastend (ca. ein Drittel) oder fehlende Handlungssicherheit werden angegeben.
Dass eine Veränderung der Rahmenbedingungen für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen eine Verbesserung der Versorgungslage bewirken kann, zeigt der Befund, dass etwa die Hälfte der befragten Gynäkolog*innen bereit wäre, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, wenn Barrieren wegfallen würden. In beiden Ärzt*innen-Befragungen gibt eine große Mehrheit von über 75 % der Teilnehmenden an, dass sie für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sind. Dies deckt sich mit der aktuellen Beschlussfassung beim Deutschen Ärztetag.
Handlungsanforderungen
Die differenzierte Datenlage der ELSA-Studie bietet – zusammen mit den Praxiserfahrungen der Schwangerenberatungsstellen – eine fachlich belastbare Grundlage, auf der der Landesauftrag einer bedarfsorientierten Planung zur Versorgung bei Schwangerschaftsabbruch in konkreten Schritten umzusetzen ist.
Die in § 16 SchKG neu aufgenommene jährliche regionale Auswertung der Meldedaten auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte stellt hierfür einen wichtigen Ausgangspunkt dar. Diese anonymisierte Auswertung ersetzt jedoch nicht die konkrete und systematische Erfassung der Einrichtungen im Land, die Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregelung vornehmen, der jeweiligen Kapazitäten und der angebotenen Methoden. Nur eine ganzheitliche Erfassung der Versorgungsdaten schafft die notwendige Grundlage für eine fundierte Bedarfsplanung, die auf eine flächendeckende und wohnortnahe Versorgung, ausgerichtet sein muss. Hierbei muss die Wahlfreiheit gegeben sein, Schwangerschaftsabbrüche medikamentös und operativ durchführen zu lassen.
Darüber hinaus ist eine Veröffentlichung dieser Daten geboten, da sie nicht nur Transparenz schafft, sondern auch einen wichtigen Informationspool für Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen bereitstellt. Diese Beratungsstellen nehmen als unmittelbare Anlaufstellen eine Lotsenfunktion im Versorgungssystem wahr und sind auf verlässliche Informationen angewiesen.
Bei der Umsetzung eines landesweiten Versorgungskonzeptes ist zudem sicherzustellen, dass die Kooperation der lokalen Akteur*innen der Gesundheitsversorgung in den Regionen aktiv gefördert wird. Für eine verlässliche Versorgungslage müssen die Universitätskliniken durch das Land dazu verpflichtet werden, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Weitere Möglichkeiten ergeben sich durch die Krankenhausbedarfsplanung, die in der Hoheit der jeweiligen Bundesländer liegt. Das Bundesverwaltungsgerichtsurteil vom 13. Dezember 1991 (Aktenzeichen 7 C 26/90) stärkt die Möglichkeit der Verpflichtung. Es stellt hierbei klar, dass es sich lediglich um ein individuelles und kein kooperatives Handlungsverweigerungsrecht handelt.
Um eine qualifizierte Versorgung zu gewährleisten ist dafür Sorge zu tragen, dass die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in die Curricula als Standard der Ausbildungen medizinischen Fachpersonals aufgenommen wird.
Daher ergibt sich aus der ELSA-Studie für das Land Baden-Württemberg ein gesundheits- und gleichstellungspolitischer Handlungsauftrag mit großer Dringlichkeit.
Anbei finden Sie die Stellungnahme vom 15.09.2025 sowie die Pressemitteilung vom 15.08.2025.
Doppelungen bitten wir zu entschuldigen.
Kontakt
Verena Hahn, Zweite Vorsitzende Landesfrauenrat Baden-Württemberg, vhahn.ra@web.de, Telefon: 0176-20627744
Verena Schickle, LAG der kommunalen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten Baden-Württemberg, Verena.Schickle@offenburg.de, Tel.: 0781 82-2538
Ruth Weckenmann, Vorsitzende pro familia Baden-Württemberg, lv.baden-wuerttemberg@profamilia.de,Tel.: 0711-2599353
Der Landesfrauenrat Baden-Württemberg ist die politische Interessenvertretung von über 50 landesweit aktiven Frauenorganisationen und damit die größte Frauenlobby Baden-Württembergs. Der LFR BW ist unabhängig, überparteilich und überkonfessionell tätig und repräsentiert damit die heterogene Vielfalt der weiblichen Bevölkerung. Erste Vorsitzende ist Prof.in Dr. Ute Mackenstedt.
Die Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten Baden-Württemberg ist ein Zusammenschluss von hauptamtlich tätigen kommunalen Frauen – und Gleichstellungsbeauftragten in Landkreisen und Städten Baden-Württembergs. Sprecherinnen der LAG sind Sandra Arendarczyk, Larah Fritz, Alexandra Gabriele Keim, Jitka Sklenářová und Annette Zoll-Decandia.
pro familia Baden-Württemberg ist Fachverband für Sexualität, Partnerschaft und Familienplanung und Dachverband für 19 Beratungsstellen und fünf Außenstellen im Land. Alle Beratungsstellen sind durch das Land Baden-Württemberg anerkannte und geförderte Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen. Darüber hinaus bietet pro familia Sexual- und Paarberatung sowie Veranstaltungen zur Sexuellen Bildung. Erste Vorsitzende ist Ruth Weckenmann.