2003: „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ Geschlechterverhältnisse gestalten – Gender Mainstreaming Leitlinie umsetzen

Im Rahmen seiner Mitarbeit im Wirtschaftsforum „Demografischer Wandel“ (angesiedelt beim Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg) nahm der LFR im März 2003 zum Themenfeld „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ ausführlich Stellung.

Unter dem Titel „Geschlechterverhältnisse gestalten – Gender Mainstreaming Leitlinie umsetzen“ führte er aus:
Die EU hat Gender Mainstreaming als durchgängiges Leitprinzip in den Mitgliedsstaaten mit dem Amsterdamer Vertrag – erstmals kraft Gesetz – 1997 verpflichtend gemacht. Die Landesregierung Baden-Württemberg hat am 9. Juli 2002 beschlossen, das Prinzip des Gender Mainstraming in der Landesverwaltung umzusetzen. Zukunftstaugliche Arbeitsergebnisse müssen europäische Standards bzw. Zielvereinbarungen in den Blick nehmen. Dazu gehört das Prinzip des Gender Mainstreaming als aktives Gestaltungsprinzip für demokratische Geschlechterverhältnisse in Europa.

„Hierbei geht es darum, die Bemühungen um das Vorantreiben der Chancengleichheit nicht auf die Durchführung von Sondermaßnahmen für Frauen zu beschränken, sondern zur Verwirklichung der Gleichberechtigung ausdrücklich sämtliche allgemeinen politischen Konzepte und Maßnahmen einzuspannen, indem nämlich die etwaigen Auswirkungen auf die Situation der Frauen bzw. der Männer bereits in der Konzeptionsphase aktiv und erkennbar integriert werden („gender perspective“). ….
Förderung der Gleichstellung ist nämlich nicht einfach der Versuch, statistische Parität zu erreichen: Da es darum geht, eine dauerhafte Weiterentwicklung der Elternrollen, der Familienstrukturen, der institutionellen Praxis, der Formen der Arbeitsorganisation und der Zeiteinteilung usw. zu fördern, betrifft die Chancengleichheit nicht allein die Frauen, die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihre Selbständigkeit, sondern auch die Männer und die Gesellschaft insgesamt, für die sie ein Fortschrittsfaktor und ein Unterpfand für Demokratie und Pluralismus sein kann.“ (Auszug aus der Kommissionsmitteilung zur „Einbindung der Chancengleichheit in sämtliche politische Konzepte und Maßnahmen der Gemeinschaft“ COM (96)67 end.)

Gender mainstreaming ist sowohl Grundsatz als auch Methode, den geschlechtsspezifischen Ansatz in alle Politikfelder, Konzepte und Prozesse einzubringen und zwar als Teil der Europa- und Bundespolitik sowie der Landes- und Kommunalpolitik.
Das traditionelle geschlechter- und familienpolitische Leitbild, das dem Mann die Rolle eines Familienernährers und der Frau die Zuständigkeit für die im Regelfall privat zu leistende Kindererziehung, Pflege und die Haushaltsführung zuweist, bewirkt u.a. eine ungleiche Verteilung der Chancen von Frauen und Männern auf persönliche Entwicklung, eigenständige Existenzsicherung durch Erwerbseinkommen und Verwirklichung beruflich verwertbarer Potenziale und Kompetenzen.
Hinsichtlich der Zugänge zu allgemeiner Bildung haben Mädchen und Frauen in den vergangenen 20 Jahren aufgeholt, teilweise Jungen sogar überholt. Das Niveau der beruflichen Ausbildung steigt, auch wenn nach wie vor ein großer Teil der Mädchen sich für ein enges Berufsspektrum mit eingeschränkten Perspektiven entscheidet.
Die Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, die vorhandene öffentliche Infrastruktur und Teile des Steuer bzw. Sozialsystems werden Eltern, die Familie und Beruf vereinbaren wollen, also sowohl ihre beruflichen Qualifikationen einsetzen und erhalten wollen als auch aktiv Verantwortung als Eltern übernehmen wollen, vielfach nicht gerecht.
Unter ökonomischen und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten erweisen sich sie als doppelt kontraproduktiv: ein längerer Berufsaustieg führt zum Verlust von Qualifikationen, in die zuvor die Gesellschaft als ganzes oder ein Einzelunternehmen investiert hat. Eine zunehmende Zahl gut ausgebildeter Frauen verzichtet auf die Realisierung eines Kinderwunsches.

Ausprägungen des tradierten Leitbildes:
– Die Segregation des Arbeitsmarktes, Arbeitsplatz- und Arbeitszeitzeitgestaltung verlaufen in starkem Maße entlang des tradierten Leitbildes familiärer Arbeitsteilung.
– In den Einkommensunterschieden zwischen sog. „Frauenbranchen“ und sog. „Männerbranchen“ spiegelt sich die überkommende Definition des Einkommens des Mannes als „Familieneinkommen“ und des Einkommens der Frau als „Zuverdienst“, der nicht per se als existenzsichernd angelegt ist.
– Der Regelfall eines qualifizierten Arbeitsplatzes ist der Vollzeitarbeitsplatz. Qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze für Frauen und Männer, die einen paritätischen Lebensentwurf verwirklichen wollen, sind nach wie vor rar.
– Ausdruck und Wirkung dieser Geschlechterrollen-Zuweisung ist auch die geringere gesellschaftliche und geldwerte Anerkennung der Berufe, in denen unmittelbar Verantwortung für Menschen getragen wird (Sozialberufe, Gesundheitsberufe …) im Verhältnis zu Berufen, wo Verantwortung für Dinge und Maschinen im Vordergrund stehen.
– Die Ehegattenbesteuerung unterstützt mit dem Ehegattensplitting in der bestehenden Form das o.g. Leitbild der familiären Arbeitsteilung auch direkt finanziell.
– Das System der Alterssicherung geht nach wie vor vom Regelfall der ununterbrochenen Erwerbsbiograhie in Ganztagesform aus und proklamiert die beitragsbezogene Rente als eigentliches Ziel, die im angenommenen Nomalfall ebenfalls als Quasi-Familieneinkommen fungieren soll.
– Öffentliche Ganztages-Kinderbetreuung wird immer noch vorrangig als familienergänzende Maßnahme für den Notfall konzipiert.)

Auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie umgesetzt bedeutet die Umsetzung der Gender Mainstreaming Prinzips u.a.:
1. Mittels Arbeitsmarktpolitik, Arbeitszeitgestaltung, Tarifpolitik für Mütter und Väter Bedingungen für die Vereinbarkeit von familiären und beruflichen Aufgaben und Zielen herzustellen, die eine partnerschaftliche, paritätische Aufgabenverteilung in der Familie stützen und beiden Partnern ein eigenes Erwerbseinkommen und den Erhalt und die Weiterentwicklung ihrer beruflichen Qualifikation gewährleisten.
Die Alternative in diesem Sinne ist also nicht: Vereinbarkeit nur durch irgendeinen Teilzeitarbeitsplatz für die Mutter zu ermöglichen.
2. Die soziale Infrastruktur und die Verkehrsinfrastruktur dahingehend zu entwickeln, dass sie Müttern und Vätern bzw. privat Pflegenden in gleichem Maße Zugang zu beruflicher Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Erwerbseinkommen und beruflicher Fortbildung ermöglicht durch
– ein verlässliches, flexibles außerfamiliäres ganztägiges Angebot an Kinderbetreuung für Kinder/Jugendliche von 0 bis 14 Jahren und ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagesschulen, vor Ort zusammengefügt zu einem koordinierten und gut funktionierenden Kinderbetreuungsnetz;
– unterstützende Angebote für pflegende Angehörige, die zugleich eine qualitativ hochwertige Versorgung für die zu Pflegenden sichert;
– eine regionale Verkehrsinfrastruktur, die mit kurzen Wege(zeiten) bzw. einem bedarfsgerechten und abgestimmten Nahverkehrsystem die zeitlich-räumliche Koordination ermöglicht zwischen Wohnort, Arbeitsplatz und außerhäuslichen Lern- und Lebensorten von Kindern)

3. Vorschläge umzusetzen und zu entwickeln, die geeignet sind, auch die privat geleistete Kindererziehung und die Pflege kranker und älterer Menschen in Privathaushalten künftig geschlechtergerecht zwischen Männern und Frauen zu verteilen;
Dazu können Anreizsysteme gehören wie z.B.:
– Berücksichtigung von außerberuflich erworbenen Schlüsselqualifikationen bei Bewerbungen und Personalentscheidungen nicht nur für sog. hausarbeitsnahe Tätigkeitsfelder (siehe auch Sozialministerium „Schlüsselqualifikationen“, Nov. 2000)

Grundsätzlich erforderlich sind,
– auch den regionalen und örtlichen Akteuren verlässliche geschlechtsdifferenzierte Planungsdaten zur Verfügung zu stellen.
– Berichterstattung/Öffentliche Bilanzierung erreichter/nicht-erreichter Ziele zur Umsetzung von Zielvorgaben im Sinne des Gender Mainstreaming und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
– Beratung von Arbeitnehmer/Innen, Existenzgründer/Innen, bestehenden Betrieben und Verankerung von Beratung/ggf. Training im Bereich der Vereinbarkeit bzw. der Umsetzung der Gender-Mainstreaming-Leitlinie bei Kammern und Wirtschaftsorganisationen
– Verknüpfung finanzieller Förderungen mit Zielvorgaben im Sinne des Gender Mainstreaming und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.